Warmblasen in der Kälte
Und das Brauchtum lebt – das traditionsreiche Neujahrsanblasen in Bayern
Das Dorf Hohengebraching im Landkreis Regensburg: zwei Straßen, 200 Einwohner und 400
Kühe. Sieben Männer treten an, sich dem Brauchtum zu stellen. Das nennt sich
Neujahrsanblasen, und jenseits aller falschen Assoziationen handelt es sich um eine alte
Tradition im süddeutschen Raum. Wobei das neue Jahr mit Blasmusik begrüßt wird. Eine
Gruppe Musikanten zieht dabei von Tür zu Tür, bringt ein Ständchen zu Gehör, mit stark
erkalteten Gliedmaßen und Instrumenten, wünscht ein gutes neues Jahr, bekommt ein paar
Euro in die Hand gedrückt. Und einen Schnaps.
So auch das Aubachtal Sextett. Das Sextett spielt mittlerweile zu siebt, aus Tradition behielt
man aber den Namen. Zwischen 23 und 32 Jahren, vom Maschinenbaustudenten bis zum
Lehrer. Es besteht aus Klarinetten-Flo und -Siggi, Tenorhorn-Werner, Baritonhorn-Flo, Tuba-
Roland, Trompeten-Uli und -Christian. Neun Uhr, Warmblasen. Die neuesten drei Stücke
werden dargebracht: sanfter Wohlklang, gut intoniert, sauber im Timing, ohne Aussetzer. Nur
bei „Jessas, Jessas, geh do her!” rutscht der Klarinette ein B durch statt eines H. So früh am
Tag merken das die Ohren der Musiker. Das wird nicht so bleiben. Die Aubachtaler haben das
Neujahrsanblasen hier wiederbelebt. Es gehört zu den so genannten Lärm- und
Weckbräuchen. Sie haben sich bis heute erhalten, angefangen vom „Apperschnalzen” mit
überlangen Peitschen, über Feuerwerke, bis eben zum Anblasen. In der Chronik des Allgäuer
Ortes Maria Thann von 1928 heißt es lapidar: „Begleitumstände wie Alkohol oder schlechtes
Wetter waren bläserisch nicht leicht zu verkraften.” Erste Station von insgesamt 64 heute. Es
ist 9.37 Uhr. Christian klingelt, tritt vier Schritte zurück, gibt das Zeichen, und schon weht ein
Landler aus sieben Schallbechern gegen die Haustür. Ein Lehrer öffnet und hört mehr
mürrisch als erfreut zu. Wortkarg nimmt er die Neujahrswünsche des Septetts entgegen, gibt
zehn Euro, „für einen guten Zweck, nämlich uns”, wie Uli raunt, und weiter stapfen die sieben
durch den Flockenwirbel. Von Hof zu Hof, Haus zu Haus. Zehn lange Stunden. Die
Klarinetten haben den Nachteil, dass sie ohne Handschuhe spielen müssen, weil die Klappen
am Instrument zu schmal sind. So sehen Siggis kaltrote Finger schon nach zwanzig Minuten
aus, als arbeitete er seit langem in einer Metzgerei. Das Sextett hatte seit der Gründung 1994
jeden Montag geprobt. 1997 gewann es den Kulturförderpreis der Stadt Regensburg. Jetzt
üben die sieben nicht mehr. Neues wird vorgesungen oder gespielt, die anderen spielen es
nach. So ist ein Repertoire von über dreißig Stücken zusammengekommen, womit sie jedes
Jahr auf dem „Way Out West Oktoberfest” in Tempe, Arizona, als blasende Vertreter
Regensburgs auftreten.
Station 3, zu fünf Euro Spende kommt der erste Schnaps dazu. Der Spender, im engen
Blaumann und mit zu kleinem Pepitahut in der Stirn, meint nur kichernd: „Jetz glangts her,
Buam!” Mit Todesverachtung schüttet die Gruppe den Obstler hinunter.
Station 6. Es schneit stark in die Tuba. „Das Schlimmste ist, wenn die Ventile einfrieren.
Dann wird die Musik etwas einfältig”, meint Roland. „Da kannst du nur Schnaps reinschütten,
damit es nicht mehr gefriert. Ekelhaft, am Abend, wenn du da reinbläst, eine ganz gemeine
Mischung aus Spucke, Kondenswasser und Fusel.”
Station 14. Der Dorfpfarrer schenkt selbst gemachten Likör aus. „Der macht zwar a bisserl
blind, ansonsten aber passts scho.” Das Tenorhorn geht erstmals weich in die Knie. Station
17. Erster Überdruss: „Mei”, sagt Horn-Flo, „a Bier wär jetzt auch amal was. Oiwei die
Hardware.” Eine Frau bittet die Musikanten in ihr Haus. Männer und Instrumente tauen auf.
Horn-Werner lässt ohne Umschweife das Kondenswasser auf den Wohnzimmerteppich
laufen. „Ja mi leckst, was für a Suppn!”
Schnaps 19. Horn-Werner zollt dem Alkohol als erster Tribut. Mit Knoten in der Zunge und
schwankender Koordination. „Kann zwar nimmer reden, aber spielen kann ich noch lang.”
Zwei Schnäpse später muss er bekennen: „Kann nimmer, kann nimmer spielen.” Klarinetten-
Flo schreitet ein: „Rüge an die Bassgruppe: Ihr spielts an Scheiß.” Grundlose
Heiterkeitsanfälle bei der Tuba, während sie leicht in den Wald abdriftet. Nur Siggi und Gebi
haben noch kein Getränk ausgelassen oder hinter die Schulter gekippt, als es zur Mittagspause
geht, bei Erdkundelehrer Heinz Krammel. Eine Stunde Ausnüchterung. Horn-Werner
dämmert immer wieder weg.
14.30 Uhr. Etwas ernüchtert ziehen die Männer weiter. Spielen auch mal verschlossene Türen
an. Oder hören vorzeitig auf: „Verdammt, ich hab gedacht, da kommt keiner mehr raus!”
Oder überlassen Einwohnern ihre Instrumente. Bei Station 44 greift eine Bauersfrau flugs zu
Werners Horn und bläst zwischen zwei Jagdbittern einen mit. Es wird kälter. Aus der
Klarinette steigen kleine Wölkchen in den Himmel. Flo muss zwischen zwei Takten stark
aufstoßen. Autos halten auf offener Straße und lassen sich anblasen. „Die Kinder sind jetzt
betrunken, glaube ich”, meint Klarinetten-Siggi, nachdem er stark in die Rücksitze geflötet
hat, aus denen ihm noch immer verschreckte Kinderaugen entgegenstarren.
Schnaps 33. „Ja, pfui Deifi, is der greislich.” Sigi hustet einen halben Lebkuchen in seine
Klarinette, während Tuba-Roland eine verschlossene Tür antutet. Dann endlich ein Gasthaus.
Drinnen dämmern rotnasige Männer über ihrem Nachmittagsbier. Das Gasthaus wird nur von
einer funzeligen Lampe erhellt. Das Sextett spielt „SDirndl is ins Wasser gfoin”. Zehn
Minuten später ziehen sie mit „Muss I denn zum Städele hinaus” wieder in die Kälte.
Schnaps 41, 18.44 Uhr: An einen geordneten Rückzug ist nicht mehr zu denken. Die
Versammlung zerfällt schwankend im Dunkel der blauen Nacht. Am Ende bleiben ein
schwerer Kopf plus 35 Euro pro Musikant. Und die Hoffnung: Gott mit dir, du Land der
Bayern.
SEBASTIAN POLIWODA
Grundlose Heiterkeitsanfälle
bei der Tuba, während sie
leicht in den Wald abdriftet
Inhalt mit freundlicher Erlaubnis von
Dr. Sebastian Poliwoda
Autor/ Stellv. Akademiedirektor
Akademie der Bayerischen Presse
s.poliwoda@a-b-p.de
www.sebastianpoliwoda.de
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